Funkkorrespondenz: Fernsehen / Kritik

Punks im Kuhstal

Irina Kosean: Halbwertszeiten. Reihe "Deutschland dokumentarisch" (ZDF)

ZDF (Das kleine Fernsehspiel) Mo 27.11. 0.50 bis 2.10 Uhr

Wir befinden uns im Jahr 1986. Ganz Deutschland ist von Atomkraftwerken besetzt. Ganz Deutschland? Nein! Ein von unbeugsamen Demonstranten errichtetes Hüttendorf in Wackersdorf hört nicht auf, dem "WAAhnsinn" Widerstand zu leisten. Auf dem Kinderbild, das die damals vierjährige Irina Kosean mit Buntstiften gemalt hat, ist auch die große Lupe zu Funkkorrespondenz

Funkkorrespondenz: Fernsehen / Kritik

Punks im Kuhstal

Irina Kosean: Halbwertszeiten. Reihe "Deutschland dokumentarisch" (ZDF)

ZDF (Das kleine Fernsehspiel) Mo 27.11. 0.50 bis 2.10 Uhr

Wir befinden uns im Jahr 1986. Ganz Deutschland ist von Atomkraftwerken besetzt. Ganz Deutschland? Nein! Ein von unbeugsamen Demonstranten errichtetes Hüttendorf in Wackersdorf hört nicht auf, dem "WAAhnsinn" Widerstand zu leisten. Auf dem Kinderbild, das die damals vierjährige Irina Kosean mit Buntstiften gemalt hat, ist auch die große Lupe zu erkennen, die auf der ersten Seite jedes "Asterix"-Comic die Situation klarstellt: Wie die Gallier von den bösen Römern, so waren auch die Demonstranten in Wackersdorf von der Polizei umzingelt. Zwanzig Jahre später findet Irina Kosean dieses und andere ihrer Kinderbilder neben vergilbten Plakaten, verstaubten CS-Gas-Schutzbrillen und einem Aktenordner voller Zeitungsausschnitte in einem Koffer auf dem Dachboden ihrer Eltern. Dieser Fund gibt den Anlass einer bewegenden Zeitreise zurück in die späten 1980er Jahre, als fast 900 000 Menschen gegen die Wiederaufbereitungsanlage (also: die WAA) in der bayerischen Oberpfalz demonstrierten.

Ausschnitte aus dem Wackersdorf-Dokumentarfilm "Spaltprozesse" (1987) von Claus Strigel und Bertam Verhaag (deren Firma Denk-mal Film auch "Habwertszeiten" produziert hat) rufen die bürgerkriegsähnlichen Zustände von damals in Erinnerung. Vor dem Hintergrund dieser ‘Jagdszenen aus der Oberpfalz’ befragt die Filmemacherin neben Zeitzeugen wie dem unbelehrbaren bayerischen Ex-Innenminister Karl Hillermeier (CSU) eine Reihe der damaligen Demonstranten nach ihren Erinnerungen. Die Dokumentation zeigt, was aus den Menschen geworden ist und wie sie heute zu ihrem Engagement stehen. Mit hörbarer Protestnostalgie erklärt etwa Peter Jungfleisch: "Es müsste regelmäßig Wackersdorfs geben, dass sich die Leute gegenseitig näherkommen." Doch nicht nur für den Ex-Autonomen waren die insgesamt neun Jahre dauernden Demonstrationen eine Art kulturelles Erlebnis von sozialer Bedeutung. Auch für die inzwischen über 70-jährige Irmgard Gietl — die in einem der Nachbarorte mit Mann, Kindern und Haus zunächst "in einer heilen Welt" lebte — gerieten die Protestaktionen zu einem sozialen Coming-out. Wie viele der alteingesessenen Bauern vor Ort solidarisierte sie sich mit den (vermeintlichen) Randalierern aus Berlin und München. Punks mit Irokesenschnitt nächtigten im Kuhstall eines Bauern, der sich heute für die Opfer von Tschernobyl engagiert.

Der Film von Irina Kosean — der den Abschluss der vierteiligen ZDF-Reihe "Deutschland dokumentarisch" bildet — erhebt nicht den Anspruch, einen repräsentativen Querschnitt der damaligen Demonstranten darzustellen. Mit liebevollen Seitenblicken und Detailinformationen zeichnet die Filmemacherin stattdessen das Stimmungsbild einer Epoche nach, in der die Grenze zwischen Spießbürgern und Chaoten fließend wurde. Typische Sprüche aus dem Mund der Autonomen wie "AKW NEE" sind buchstäblich eingewoben in Spitzengardinen, die heute noch Wackersdorfer Fenster schmücken.

Auch die Widersprüche der Protestler, deren Einstellung von zivilem Ungehorsam bis zur militanten Gewaltbereitschaft reichte, werden auf witzige Weise eingefangen. Etwa wenn Stefan Vogel, der heute in München Designerlampen verkauft, sich erinnert, wie er in Lederkombi am Bauzaun herumsägte und anschließend von Gewalt ablehnenden Mitdemonstranten unsanft festgehalten wurde. Es entbrannte eine, wahrscheinlich zermürbende, Diskussion, ob die Hinderung an der Gewaltausübung nicht selbst gewalttätig sei. "Halbwertszeiten" ist einerseits ein sehr persönlicher Film geworden, der die damals vierjährige Irina Kosean auf grobkörnigen Super-8-Filmen im Hüttendorf zeigt. Andererseits stellt die Filmemacherin auch die Frage, warum es heute in einer politikverdrossenen Zeit der geringen Wahlbeteiligung solche Massenbewegungen nicht mehr gibt: "Wo ist eigentlich mein Wackersdorf?"

So spannend die Frage ist, so vage und indirekt bleiben die Antworten. Die Globalisierung gebe heute kein klares Feindbild mehr ab, meint ein junger Mann Anfang zwanzig, der sich in seinem Jugendzentrum politisch engagiert. Das ist richtig, denn einen charismatischen politischen ‘Bösewicht’ wie seinerzeit Franz Josef Strauß (CSU), der die Demonstranten pauschal kriminalisierte, gibt es heute tatsächlich nicht mehr. Insofern hätte man aus dem Film aber vielleicht auch ganz gerne erfahren, ob die gegenwärtige Politik aus den Ereignissen in Wackersdorf gelernt hat. Oder stünden die Menschen Wackersdorf heutzutage eher gleichgültig gegenüber? Könnten sich Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger den Luxus des Demonstrierens heute überhaupt noch leisten? Auch die Frage, warum genau der Bau der Wiederaufbereitungsanlage abgebrochen wurde und welchen Anteil die Demonstranten nun tatsächlich daran hatten, wird nur unscharf beantwortet. Irina Koseans Blick zurück in die Achtziger ist eine wunderschöne gefühlte Zeitreise, bei der jedoch am Ende die analytische Perspektive etwas zu kurz kommt?

24.11.06 - Manfred Riepe

Weitere Rezension: SZ-EVA MARZ
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